Corona-Rigorosität auch in der Regionalpolitik?

Kleiner Kommentar zum ausführlichen Regionalranking 2020 des IW

 

(von Wolfgang Krumbein)

 

Es scheint so, als hätten sich im Zuge der jüngsten Pandemie zwei Trends miteinander verkoppelt: Eine mindestens teilweise Abkehr vom Neoliberalismus und eine enorme Zunahme in der Handlungskraft des Staates. Anhand von aktuellen Texten des IW wird im Folgenden überprüft, ob sich solche Trends auch in Regionalanalysen und regionalpolitischen Vorschlägen finden lassen.

 

 

Bemerkenswertes tut sich beim IW. Das landläufig als ‚arbeitgebernah‘ bezeichnete Institut der Deutschen Wirtschaft aus Köln scheint Abschied genommen zu haben vom allzu kruden Neoliberalismus. Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls, wenn man sich die Verlautbarungen des IW in den letzten Monaten ansieht. Schon weit vor der Corona-Krise wurde gemeinsam mit gewerkschaftlich ausgerichteten WissenschaftlerInnen ein höchst umfangreiches Investitionsprogramm entwickelt; und das IW forderte zudem, Abstand zu nehmen von einer harten Auslegung der Schuldenbremse. IW-Chef Hüther befeuert diesen Eindruck einer partiellen Neuorientierung durch Auftritte in der Öffentlichkeit, bei denen er Wert darauf zu legen scheint, unorthodox und flexibel ‚rüberzukommen‘.

 

Nun befasst sich das Kölner Institut nicht nur mit Fragen der Makroökonomie. Auch Regionalanalysen werden regelmäßig vorgelegt – übrigens finden sich auch hier stets Plädoyers für mehr öffentliche Investitionen. IW-Chef Hüther hatte 2019 die bisherige Regionalpolitik deutlich kritisiert[1]. Sie sei überfordert und finde mehr oder weniger im Blindflug statt (7f). Seine zentrale Forderung lautet: die Kommunalfinanzen müssten ertüchtigt werden. Nähere Ausführungen dazu macht Hüther nicht; ihm schwebt aber wohl eine weitreichende generelle Reform vor, wenn er sich für eine „freie finanzielle Unterstützung“ (9) der Kommunen ausspricht. Auf alle Fälle hat dieser Aufsatz meine Neugier geweckt und ich hatte die Hoffnung, dass der hier kommentierte IW-Text zum Regionalranking 2020 detailliertere Ausführungen auch zum Thema Kommunalfinanzen macht.

 

In den Regionalrankings des IW geht es um jeweils unterschiedliche Schwerpunkte. 2018 standen z.B. digitale Regionen in Deutschland[2] im Focus. Und im laufenden Jahr wurden kürzlich die Ergebnisse des IW-Regionalrankings 2020 veröffentlicht – diesmal mit dem Schwerpunkt ‚Ländliche Regionen‘[3]. Diese Schwerpunktbildung fand ich nicht zuletzt deswegen interessant, weil die schlechte Finanzausstattung benachteiligter ländlicher Räume ein großes Problem darstellt. Im Folgenden werde ich dieses letzte Ranking[4] kommentieren und dabei die Frage stellen, ob sich Belege für die eingangs vermutete Neuorientierung auch bei Regionalanalysen und regionalpolitischen Schlussfolgerungen finden lassen.

 

Zunächst jedoch zu den empirischen Ergebnissen, die die Studie in Bezug auf ländliche Räume präsentiert hat. Folgendes ist kurzgefasst festzustellen:

  • Im sog. Niveau-Ranking werden die Unterschiede im erreichten Entwicklungsniveau und daraus abgeleitet der ‚Erfolg‘ erfasst. Wenig überraschend ist, dass der Großraum München und danach auch der Großraum Frankfurt vorne liegen. Auch ist bekannt, dass das Berliner Umland sich gut entwickelt hat. Die entwicklungsschwächsten zehn Ränge werden ausschließlich von kreisfreien Städten belegt, davon allein vier aus dem Ruhrgebiet (Oberhausen, Duisburg, Herne und Gelsenkirchen); mit Halle an der Saale wird hier nur eine ostdeutsche Stadt erfasst.
  • Das sog. Dynamik-Ranking soll die Entwicklungen in einem Drei-Jahres-Zeitraum wiedergeben, beginnend 2017. Auf der Positivliste finden sich hier wiederum die bekannten ‚Verdächtigen‘ wie der Landkreis München und diverse Landkreise um Berlin herum. Dass der Landkreis Mainz-Bingen den ersten Rang einnimmt (76), ist hingegen hoch erklärungsbedürftig; leider wird die Neugier des interessierten Lesers nicht befriedigt. Auf der Negativseite auffallend ist die schlechte Bewertung des Burgenlandkreises, des Landkreises Dingolfingen-Landau und der Städte Herne, Emden, Delmenhorst und Bremerhaven.

Zu diesen empirischen Ergebnissen sind einige kritische Bemerkungen angezeigt. Erstens findet man die in der Überschrift der Studie angekündigte Schwerpunktsetzung auf die ländlichen Räume nur bedingt wieder. Angemessener wäre der Rückgriff auf ein allgemeines Regionalranking gewesen – das hätte die z.T. interessanten Ergebnisse bei den (kreisfreien) Städten mit umfasst. Zweitens ist der Umgang mit den Indikatoren problematisch. Alle verwandten 14 Indikatoren sind ‚hart‘, d.h. mit statistischen Daten eindeutig unterlegt[5]. Der ausschließliche Rückgriff auf diese Daten ist fragwürdig, denn es ist in den Regionalwisssenschaften bekannt, dass sog. ‚weiche‘ Faktoren eine erhebliche Bedeutung für die Entwicklung von Regionen besitzen. Nun ist sicherlich die Erfassung/Messung solcher weicher Faktoren aufwändig; man könnte sich aber damit behelfen, dass man nur in den als besonders positiv oder besonders negativ identifizierten Regionen eine kleine Internetrecherche durchführt (vielleicht mit ausgewählten ergänzenden Telefoninterviews) u.a. zur Existenz von Bürgerforen, Vereinen und Stiftungen, die sich der Entwicklungsförderung von Regionen oder ihren Teilen widmen.

 

Dies sind, drittens, allerdings nur Marginalien im Verhältnis zu einem wissenschaftlich unhaltbaren Verfahren, das man bei einem Resultat vorfindet, das die AutorInnen als ‚auffallend‘ bezeichnen. Bei der schwachen Entwicklung des Landkreises Dingolfingen-Landau reicht offensichtlich die Erklärungskraft der verwandten 14 Indikatoren nicht aus, so dass ein weiterer Faktor nachgeschoben wird. Es handelt sich um die in einer Region vorfindbare Branchenstruktur: „Die Gründe hierfür liegen hauptsächlich in der regionalen Wirtschaftsstruktur und der Beschäftigungssituation – vor allem mit einem großen Automobilhersteller als Hauptarbeitgeber“ (78). Dass dies hochrelevant ist, wissen Regionalwissenschaftler seit Jahrzehnten. Ein Bonmot, das man auf Tagungen o.Ä. gerne hört, lautet: Wenn du wissen willst, wie es einer Region geht, sieh dir die Branchenstruktur an. Es geht mir demnach auch nicht darum, zu bezweifeln, dass dieser Faktor für die Entwicklung des Landkreises Dingolfingen-Landau von erheblicher Bedeutung ist, aber: er hätte angesichts seiner generell hohen Relevanz bei der Indikatorenbildung berücksichtigt werden müssen – ihn nachträglich nachzuschieben, geht gar nicht und besagt mehr oder weniger, dass man der eigenen Indikatorenbildung nicht traut.

 

Nun aber zu meinem Kernanliegen, der Frage, ob sich in der Studie Ansätze für eine Neuorientierung des IW in Sachen Regionalpolitik finden lassen. Meine Hoffnung und Erwartungshaltung bestand darin, etwas detailliertere Vorschläge u.a. zu Förderprogrammen und Kommunalfinanzierung zu lesen. Schon der erste Zugriff aber war enttäuschend: Unter Berücksichtigung des in der Einleitung formulierten Ziels, Handlungsmaßnahmen zu entwickeln, ist der Umfang der im letzten Kapitel ‚Schlussfolgerungen für die Regionalpolitik‘ unterbreiteten Vorschläge arg kurz. Nicht mehr als eine gute halbe Seite von insgesamt gut 20 Seiten der Studie sind diesem Ziel gewidmet. Ausdrücklich erwähnt werden hier im Wesentlichen drei Ziele, die heute allgemein weitgehend getragen werden und denen auch ich zustimme, die aber keinen besonderen Neuigkeitswert besitzen: Die Sicherstellung infrastruktureller Rahmenbedingungen, die Lösung der Förderpolitik vom Fokus auf Ostdeutschland (um auch die schwachen Räume Westdeutschlands anschlussfähig zu machen) und die Fachkräftesicherung (was auch das Bemühen umfasst, Schrumpfungsprozesse durch Abwanderung jüngerer und besser ausgebildeter Bevölkerungsteile in prosperierende Regionen zu vermeiden) (85f).

 

 

Jenseits dieser bekannten Forderungen sind auch implizite regionalpolitische Statements von Bedeutung, die an verschiedenen Stellen des Gesamttextes eingestreut sind. Wichtig scheint mir insbesondere die Konstruktion eines relativ engen Zusammenhangs von niedrigen Gewerbesteuersätzen und regionalem Erfolg zu sein. Während sich hohe Gewerbesteuersätze negativ auf den Erfolg von Regionen auswirkten (72), sei es bei geringen Steuersätzen genau umgekehrt: „Relativ geringe Gewerbesteuersätze (…) laden zu unternehmerischer Tätigkeit (…) ein“ (83). Diese klassisch auf Anreizpolitik zielende Einschätzung wirkt heute wie aus der Zeit gefallen. Sie steht in klarem Widerspruch zur eigenen ebenfalls häufig betonten Notwendigkeit der Sicherung der Infrastruktur auch in schwächer gestellten Regionen. An sich hat sich erfreulicherweise in weiten Teilen der Debatte mittlerweile die Einsicht durchgesetzt, dass in vielen z.B. altindustriellen Regionen Westdeutschlands die spezifische gemeindliche Steuerkraft der betreffenden Kommunen sehr zu wünschen übrig lässt – zumal die generelle Finanzausstattung der Kommunen im Verhältnis zu Bund und Ländern höchst unzureichend ist. Niedrige Gewerbesteuersätze können sich aber insbesondere schlechter gestellte Kommunen nicht leisten – schon gar nicht einen ‚Race to the bottom‘. Auf derartige Zusammenhänge gehen die Autoren leider nicht ein. Eine regionalpolitische Neuorientierung, die an zentraler Stelle auch die Finanzausstattung aller (und insbesondere auch der branchenstrukturell benachteiligten Regionen) sichern will, ist nicht zu erkennen.

 

Diese Rückwärtsorientierung steht in krassem Gegensatz zu den höchst weitreichenden Erfordernissen. Ähnlich wie bei der Gesundheitspolitik ist in so gut wie allen anderen Politikfeldern eine radikale Umorientierung angesagt, die verschiedentlich als ‚Corona-Rigorosität‘ bezeichnet wird[6].

 

Ein neues Denken und Handeln in der Regionalpolitik sollte m.E. auf folgenden Punkten basieren:

  • alle theoretischen Ansätze, die regionalpolitische Regulierungen mit dem Verweis auf später aufgrund von Marktprozessen zu erwartende Ausgleichsprozesse ablehnen oder verschieben, sollten nicht mehr handlungsleitend sein. Regionale Probleme müssen nüchtern benannt und ihnen möglichst rasch entgegengewirkt werden;
  • die massive Unterfinanzierung der Kommunen ist das zentrale Hindernis wirkungsvollen regionalpolitischen Handelns. Auf der Agenda steht eine generelle Besserstellung durch eine Beteiligung der Kommunen u.a. an Einkommens- und Umsatzsteuern. Häufig wechselnde Projektfinanzierungen reichen ebenso wenig aus wie Altschuldentilgungen. Angesichts des auf allen Ebenen riesigen Finanzbedarfs geht an einer monetären Staatsfinanzierung kein Weg vorbei. Ideologische Scheuklappen dürfen diese zweifelsohne weitreichende Neuerung nicht weiter verhindern;
  • die Gewerbesteuern führen zu einer immer wieder zu beobachtenden Abhängigkeit der Kommunen von zyklischen ökonomischen Prozessen. Ferner begünstigen sie den ökologisch unerwünschten Flächenfraß durch das primäre Bemühen um Neuansiedlungen und führen zu politischen Abhängigkeiten von Unternehmen. Gewerbesteuern sollten daher abgeschafft und durch die oben erwähnten neuen Finanzierungsformen der Kommunen ersetzt werden;
  • die GRW[7] als das wichtigste deutsche Handlungsinstrument der Regionalpolitik muss aus seiner Unterworfenheit unter das Wachstumsziel herausgelöst und konsequent auf die Unterstützung der allgemeinen (nicht nur wirtschaftsnahen) Infrastruktur ausgerichtet werden;
  • neue regionalpolitische Handlungsmöglichkeiten ergeben sich auch durch eine deutliche Intensivierung unterschiedlicher Politikfeldintegrationen. Von hoher Bedeutung für regionale Entwicklungen ist z.B. die Energiepolitik, wo durch eine Ausrichtung der Energiewende auf ‚die Region‘ u.a. teure und politisch brisante Strom-Neutrassierungen hätten vermieden oder eingeschränkt werden können. Für die Regionen hätten sich zudem relevante Wertschöpfungseffekte erreichen lassen. Auch in den Feldern der Industrie-, Mobilitäts- und Wohnungsbaupolitik lassen sich bei konsequenter Durchregulierung hohe Erträge für regionale Entwicklungen verwirklichen;
  • eine breite demokratische Beteiligung ist auf kommunaler Ebene gut realisierbar und auch zielführend. Bürgerforen, Entwicklungsvereine, Dorfmoderatoren u.Ä. sollten finanziell unterstützt und institutionell in regionalpolitische Abläufe eingebunden werden;
  • ohne eine Einbindung in eine EU-weite Regional- und Kohärenzpolitik bleiben deutsche Politikbemühungen auf halber Strecke stehen. Vordringlich ist eine Loslösung der genannten europäischen Politikfelder (und auch den wichtigen Nachbarfeldern Agrar-, Energie- und Industriepolitik) von den einseitigen Wettbewerbszielen des Lissaboner Vertrages. Vonnöten ist eine konsequente Orientierung an sozialen, ökonomischen und ökologischen Zielen.

Manchen mögen diese Vorschläge als ‚zu radikal‘ oder ‚zu unrealistisch‘ erscheinen. Doch der Handlungsbedarf ist immens. Und wenn die politischen und gesellschaftlichen Akteure mit der erforderlichen Corona-Rigorosität ans Werk gingen, ließe sich vieles relativ schnell verwirklichen.

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Anmerkungen:

 

1) Hüther, M: Wozu Regionalpolitik? Wo liegt das Problem? In: Sonderheft des Wirtschaftsdienst. Regionalpolitik neu denken, Hamburg 2019.

 

2) Kempermann, H./Millack, A. 2018: Digitale Regionen in Deutschland – Ergebnisse des IW-Regionalranking 2018. In: IW-Trends, 45-Jg., Nr. 1, S.49-66.

 

3) Hünnemeyer, V./ Kempermann, H.: Ländliche Regionen in Deutschland – Ergebnisse des IW-Regionalrankings 2020. In: IW-Trends, 47. Jg., Nr.2, S. 65-88.

 

4) Das IW hat 2020 noch eine weitere Regionalstudie vorgelegt: Christian Oberst / Michael Voigtländer, IW-Report 20/2020: Aufsteigerregionen in Deutschland – Go East! Eine empirische Analyse der Entwicklung deutscher Kreise. Darauf werde ich im Folgenden nicht näher eingehen, da kaum Ausführungen zu Fragen der Regionalpolitik enthalten sind. Eine Anmerkung scheint mir jedoch vonnöten: Gründe für die Einordnung einer Region als ‚Aufsteigerregion‘ werden ausdrücklich nicht genannt (32). Für die betreffenden Regionen macht dies die ganze Studie nutzlos. Denn kein politischer oder gesellschaftlicher Akteur vermag mit der an sich hochwillkommenen guten Einstufung etwas anzufangen, wenn Gründe/Hintergrundentwicklungen unbenannt bleiben. Und wissenschaftlich ist dieses Vorgehen höchst irritierend und rückt diese IW-Studie in die Nähe der berühmt-berüchtigten Prognos Rankings, die letztlich Effekthascherei betreiben.

 

5) Auch die unter dem Oberbegriff ‚Lebensqualität‘ firmierenden Indikatoren sind hart, etwa private Verschuldung oder Ärztedichte. Dies muss nicht so sein. So könnte man in Zeiten von Klimasorgen und unökologischer Landwirtschaft z.B. die Zahl von regionalen Naturschutzgebieten inkl. (!) der sie verwaltenden oder unterstützenden Einrichtungen als wesentlich für die Lebensqualität einer Region ansehen.

 

6) Vgl. u.a. Richard David Precht: Interview im Handelsblatt von 15.6.2020. Precht thematisiert hier m.E. völlig zu Recht das bemerkenswerte Geschehen in der Corona-Krise, das nachdrücklich aufgezeigt hat, dass die Politik mit höchster Konsequenz zu weitreichenden Regulierungen in der Lage ist. Vgl. inhaltlich ähnlich Dirk Jörke; Der Staat ist zurück, oder das Ende der Alternativlosigkeit.

Auch gegen machtstarke Interessen ist eine politische Durchsetzungsfähigkeit dann gegeben, wenn ein ausgeprägter Wille vorhanden ist. Dies macht immerhin Hoffnung angesichts des Handlungsbedarfs in den Problemfeldern Ökologie, Armut und soziale Ungleichheit – aber auch im nur scheinbar nachgeordneten Feld der Regionalpolitik kann, wenn gewollt, ein völlig neues Kapitel aufgeschlagen werden.

 

7) Die Gemeinschaftsaufgabe ‚Regionale Wirtschaftsförderung‘ wird gemeinsam von Bund und Ländern getragen.